«Wir müssen wieder lernen, in gesunden Gemeinschaften zu leben.»
Matthias Tobler ist mehrfacher Firmengründer, Co-Living-Pionier und Mitgründer der Genossenschaft Urbane Dörfer. Ein Interview über den Weg vom Bauernsohn zum Visionär, vom Wunsch nach gemeinschaftlichem Leben bis zum ersten konkreten Projekt für ein Urbanes Dorf.
Casanostra: Das Konzept «Urbanes Dorf» rüttelt gerade an den Grundfesten der Arealentwick lung.Wann ist die Idee entstanden?
Matthias Tobler Ja, wir gehen neue Wege. Ich bin überzeugt, dass wir wegkommen müssen von der gewinnorientierten Arealentwicklung, die auf einer Brache möglichst viele lukrative Wohnungen baut. Wir müssen mit und für die künftigen Nutzer*innen von Siedlungen planen. Damit stellen wir gängige Prozesse auf den Kopf. Bei mir ist das Grundkonzept des gemeinschaftlichen, selbstbestimmten Lebens tief verankert. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Leben, Arbeiten, Essen – alles war verknüpft und die Dorfgemeinschaft war ein dicht gewebtes Beziehungsnetz. Diese Erfahrung hat mich geprägt. 2017 haben etliche Freunde Einfamilienhäuser gekauft. Sie haben mich gefragt, wann wir in ein Haus ziehen und ich habe spontan gesagt: «Ich will doch kein Haus, ich will ein Dorf!» Noch im gleichen Jahr haben wir eine Spurgruppe gegründet und 2018 war die Idee
der Urbanen Dörfer bereits spruchreif.
Daraus ist eine Genossenschaft entstanden, die bereits zwei Bauprojekte vorantreibt. Welche Vision verfolgt ihr?
Der heute übliche Lebens- und Wohnstil bietet keine Lösungen für unsere sozialen und ökologischen Probleme. Der weitaus stärkste Lösungsansatz ist, dass wir wieder lernen, in gesunden Gemeinschaften und mit Respekt gegenüber den beschränkten Ressourcen und den zukünftigen Generationen zu leben. Urbane Dörfer geht der Frage nach, wie ein gutes und verantwortungsvolles Leben aus- sieht. Daraus entwickeln wir lebendige Wohn-, Arbeits- Lern- und Produk- tionsorte für jeweils 150 bis 250 Personen.
Welche Probleme sind das, die aus deiner Sicht dringend gelöst werden müssen?
Wir wohnen meist fremdbestimmt in Mietwohnungen oder in auf Abgrenzung angelegten Häusern. Die Gebäude sind ressourcenintensiv gebaut und verschlingen viel Energie. Sie entsprechen in erster Linie finanziellen und ästhetischen Ansprüchen, nicht den Interessen der Nutzer*innen.
Ihr bildet Nachbarschaften, bevor die Gebäude stehen. Wie funktioniert das?
Wir sind eine Anlaufstelle und eine Community für Menschen, die gemeinschaftlicher und suffizienter leben wollen. Aus dieser Gemeinschaft heraus lancieren wir die Projekte. Für ein Urbanes Dorf braucht es immer eine Kerngruppe von sogenannten Dorfpionier*innen, die ehrenamtlich mitarbeitet und den Kern der zukünftigen Nachbarschaft bildet.
In Zollikofen bei Bern arbeitet Urbane Dörfer an der Umnutzung eines bestehendes Gebäudes. Wo liegen die grössten Herausforderungen?
Ich sehe vor allem die Vorteile! Ökologisch ist die Umnutzung sinnvoll und es vereinfacht das Communitybuilding sehr. Man kann sich vorstellen, wie es aussehen wird und wir brauchen die Räume bereits im Sinn eines Reallabors, um die künftige Nutzung zu testen. Natürlich muss man gewisse Kompromisse eingehen, aber es ist auch spannend, etwas zu transformieren.
Das zweite Projekt in Gümligen startet auf einer brachen Fläche. Was ist dort geplant?
In Gümligen entsteht ein Urbanes Dorf mit rund 70 Wohnungen. Der Standort ist top-erschlossen und es ist spannend, dass wir dort gemeinsam mit der Bauunternehmen von Grund auf neu denken und planen können. Man kann mutiger und gleichzeitig risikoarmer entwickeln, wenn die späteren Nutzer*innen bereits am Tisch sitzen. Das ist auch für unsere Partner attraktiv.
Inwiefern verändert das den Bauprozess?
Wir stellen fest, dass in der Baubranche viele Kompetenzen zur Materie,
SIA- Bauphasen und Normen vorhanden sind, aber wenig zu den Nutzern, zu partizipativen Prozessen. Experimentelle Phasen und eine evolutionäre Entwick lung sind Neuland. Da versuchen wir, Brücken zu bauen.
Das ist aufwendig. Wie finanziert sich Urbane Dörfer?
Zum einen wird Urbane Dörfer von den Genossenschafter*innen sowie dem ehrenamtlichen Engagement von über 20 Dorfpionier*innen getragen. Zum an deren sind wir Unternehmer*innen. Die Begleitung von eigenen oder externen nutzerorientierten Arealentwicklungen rechnen wir über die jeweiligen Projekte ab. Unsere Expertise ist zunehmend gefragt, weil viele Unternehmen merken, dass es neben den Architekten für den Bau auch eine Begleitung für die sozialen Strukturen und Prozesse braucht.
Du lebst mit deiner Familie schon seit 2016 in einem experimentellen Setting. Was nimmst du mit ins Urbane Dorf?
Wir sind Mitinitianten des Effinger Kaffeebar und Coworking Space in Bern. Der Effinger war von Anfang an mehr als ‹nur› ein Arbeitsort für Unternehmer*innen und Kreative. Meine Frau und ich leben mit unseren Kindern im Co-Living-Projekt über dem Coworking Space. Bis zur Pandemie haben wir mehrmals wöchentlich die Tür unserer Wohnung für die Community geöffnet, gemeinsam gegessen oder gefeiert. Das machte Lust auf mehr. Der Effinger ist ein Urbanes Dorf im Miniformat, sozusagen der Prototyp.
Die Wohnbaupolitik in der Schweiz harzt, der Hüslikrebs frisst sich in die Landschaft, gleichzeitig steigen die Mieten in den Städten. Wenn du die Möglichkeit hättest: Was würdest du ändern?
Ich denke bottom-up. Hätte ich die Möglichkeit, würde ich Leuten, die etwas gestalten wollen, den nötigen Freiraum und die Unterstützung geben, damit sie ihre Ideen umsetzen können. Es gibt immer wieder tolle Initiativen, Leute mit guten Ideen. Urbane Dörfer soll übrigens auch kopiert werden! Wir möchten, dass sich die Idee verbreitet und möglichst viele Menschen von unseren Erfahrungen profitieren.
© Casafair
Matthias Tobler ist Coach, Innovator und Visionär. Er ist Mitgründer der Urbanen Dörfer und des Urban Future Lab, Mitinitator mehrerer Coworking Spaces und begleitet Organisationen und Areale in ihrer Transformation. Matthias lebt mit seiner Familie in Bern.
Urbane Dörfer
Die Genossenschaft Urbane Dörfer ist eine Bottom-Up- Bewegung für die Entwicklung zukunftsweisender Lebensorte durch ihre Nutzer*innen.
Ziel ist die systematische Entwicklung ökologischer, gemeinschaftlicher und suffizienter Dorfstrukturen für jeweils 150 – 250 Personen.