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Wie viel weniger ist immer noch genug?

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  Do, 06.09.2018

Vom ausgebauten Zirkuswagen über das Container- bis zum Ökominihaus tüfteln aktuell Architekten, Experimentierfreudige und Querdenkende an alternativen und zukunftsweisenden Wohnformen. Klein ist das grosse Ziel der «Tiny Housers». Trotz Hürden lässt sich das erreichen.

Kleiner Wohnen wird plötzlich cool

«Tiny House» beschreibt das Konzept, den eigenen Wohnraum drastisch einzuschränken. Kleinhaus oder Winzighaus bezeichnet Wohnräume bis 45 m2 Wohnfläche. Klein- und Winzighäuser gibt es an fixem Standort oder mobil auf Rädern. In den letzten zwanzig Jahren ist eine weltweite soziale Bewegung von Menschen entstanden, die freiwillig kleine oder gar winzige Häuser bewohnen und auf Blogs und Plattformen ihre Erfahrungen tauschen.

Als Vordenkerin der Tiny-House-Bewegung gilt die in den USA lebende englischstämmige Architektin Sarah Susanka. Sie forderte die besonders in den USA gängige Haltung Bigger is Better mit ihrem Buch «The Not So Big House – A Blueprint For the Way We Really Live» heraus. Es erschien 1997 und regte zu neuen Impulsen wie Qualität vor Quantität, Gemütlichkeit und der besonderen Beachtung von platzsparenden Details im Hausbau an.

Die heutige Bewegung kam so richtig durch den US-Amerikaner Jay Shafer ins Rollen. Er fing nach dem Platzen der Immobilienblase 2007 an, kleine Häuser zu verkaufen, die fixfertig auf Rädern geliefert wurden. Die Auswirkungen der globalen Finanzkrise trafen den Mittelstand besonders hart. Die Leute konnten sich die bisherige Grösse an Häusern schlicht nicht mehr leisten und öffneten sich notgedrungen für Kompromisse und Alternativen. Je kleiner, platzsparender, intelligenter, ökologischer und vor allem preislich günstiger, umso besser.

Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht begannen, ihr Konsumverhalten kritisch zu hinterfragen und im Kontext der aufkommenden Achtsamkeits- und Minimalismusbewegung umweltbewusster zu denken. Was brauche ich wirklich? Worauf kann ich verzichten? Wie viel weniger ist immer noch genug? Wie gross ist mein ökologischer Fussabdruck? Diskussionen rund um diese Fragen verbreiteten sich über Soziale Medien und Blogs und trafen auf die eben entstandene Open-Source- und Sharing-Kultur. Diese wiederum wurden von bekannten Branchenriesen aus dem Silicon Valley wie etwa dem Taxidienst Uber, der Unterkunftsplattform Airbnb oder Facebook ermöglicht und beschleunigt.

Nicht nur Architekten, Kreative oder Aussteiger und Aussteigerinnen griffen die Idee auf und begannen, an ihrem eigenen Tiny House zu tüfteln. Ob Kleinhaus, Winzighaus oder Wohncontainer, zu beinahe jeder Form finden sich online Erfahrungsberichte und Plattformen für den Austausch von Informationen. In der Schweiz bloggt beispielsweise Kevin Rechsteiner über den Umbau und sein Leben im umgebauten Zirkuswagen. Dieser steht zu Gast auf dem Grundstück eines Bauernhofes.

Gesetzliche Hürden

«Wenn man das Ganze rechtlich korrekt machen möchte, wird es schwierig», erzählt Kevin Rechsteiner in einem seiner Blogs. Bis heute wartet er auf die behördliche Bewilligung für seine «Fahrnisbaute», wie Tiny Houses auf Rädern amtlich korrekt bezeichnet werden. In der Landwirtschaftszone ist kein Tiny House erlaubt. Sind Tiny Houses auf einem Anhänger konstruiert, fallen sie nicht unter das Baurecht, sondern unter das Strassenverkehrsrecht. Zudem können Leute, welche sich an einem Tiny House auf Rädern stören, selbst wenn es auf einem privaten Grundstück steht, bei den Behörden Einspruch erheben. Auch wenn ein Tiny House auf einem Flachdach errichtet werden soll, greift das Baurecht. Bauvorschriften und Genehmigungspflichten sind noch nicht für die Gesellschaftsgruppe «Tiny Housers» ausgelegt.

«Das Thema ist für die meisten Baubehörden neu. Sie sind mit Pionierinnen und Pionieren konfrontiert. Es bestehen Ängste, dass die Tiny Housers hauptsächlich aus Sozialfällen und Randständigen bestehen. Der neu gegründete Verein Kleinwohnformen will diese Befürchtungen dämpfen und zeigen, dass auch hierzulande ein wachsendes Bedürfnis besteht, den eigenen Lebensstil zu reduzieren und konsequent nachhaltig zu leben. Es geht um eine neue Lebensphilosophie », so Tanja Schindler. Die Baubiologin, Initiantin und Konzeptentwicklerin des Projektes «Ökominihaus» lebt seit sieben Jahren auf 35 m2. Mit dem Projekt erforscht sie Möglichkeiten zur Umsetzung von zukunftsfähigen, sozial und kulturell nachhaltigen, bezahlbaren und gleichzeitig wohngesunden Lebensräumen.

Dazu gehört auch die angehende Sekundarlehrerin Fiona Bayer. Sie baut sich ein Tiny House auf Rädern von Grund auf selber und bloggt darüber. Sie zählt auf innovative Gemeinden und Nachbarn, welche ein Tiny House auf ihrem privaten Grundstück willkommen heissen. Fiona Bayer und Kevin Rechsteiner sind optimistisch und empfehlen, die entsprechende Gemeinde von Anfang an mit einzubeziehen, Besichtigungsgelegenheiten anzubieten und Verständnis für Kritik und Skepsis der Nachbarschaft aufzubringen.

Je nach Lebensphase geeignet

Die Wohnbedürfnisse von Singles, Familien, Rentnerinnen und Rentnern sind sehr unterschiedlich. Je nach aktuellem Lebensabschnitt können sich Menschen auf einer Wohnfläche von 10 bis 45 m2 mehr oder weniger wohlfühlen. «Ich kann mir keine andere Wohnform mehr vorstellen, für mich ist das Ökominihaus ideal!», sagt Tanja Schindler. Mit der Wohnfläche von 35 m2 ist ihr Ökominihaus so konzipiert, dass es als Langzeitwohnform taugt. Tendenziell interessieren sich jüngere, urbane, mobile, digitale Singles für das Wohnen auf kleinem Raum. Aber nicht nur.

Als «überglücklich» bezeichnet sich Erika Nüssli-Bächler, 81. Sie ist anfangs 2018 in ein Kleinhaus auf zwei Etagen von insgesamt 45 m2 gezogen. Nach dem Auszug der Kinder beschäftigte sie sich als Witwe mit der «Reduktion auf das Wesentliche» und beschloss, ihr nun zu gross gewordenes Haus ihrer Tochter und deren Familie zu überschreiben.

Ihr neues Zuhause wurde auf sie persönlich zugeschnitten. Es ist ein Anbau ans Haus ihrer Tochter, ein modernes gemütliches Stöckli. Sie hält sich viel ausserhalb ihres Kleinhauses auf und packt im Familiengarten mit an. «In den Wintermonaten, wenn es im Garten nichts zu tun gibt, ist es mir besonders wichtig, täglich hinauszugehen, mich an der frischen Luft zu bewegen. Das Leben auf engem Raum muss einem schon liegen!», gibt sie zu.

Die Fähigkeit, sich eine passende Tagesstruktur zu gestalten, sei besonders bei älteren Menschen, die den Umzug in ein Kleinhaus erwägen, äusserst wichtig. Aus ihrer Sicht ist diese Wohnform besonders für Seniorinnen und Senioren geeignet. Vorausgesetzt, dass ein tragfähiges soziales Netz besteht und das Leben im Tiny House nicht einsam wird. Die Hauptvoraussetzung sieht sie in der Bereitschaft, sich von der gewohnten Umgebung, also der grösseren Wohnung oder dem grossen Haus zu trennen. Das Konzept des modernen Stöckli zeigt auch eine Form des verdichteten Wohnens.

Flexible Form der Verdichtung

«In der Schweiz stehen Häuser teilweise auf sehr grossen Grundstücken, auf denen Klein- oder Winzighäuser stehen könnten, was der Verdichtung zugute käme», so Tanja Schindler. Ihr Ökominihaus steht auf Sumpfgebiet. Es käme sehr teuer, dort ein normales Haus zu bauen. Ein Klein- oder Winzighaus sei aber kein Problem. «Wir streben mit dem Projekt langfristige Zwischennutzungen von freiem Bauland an. Die Ökominihäuser stehen zwar nicht auf Rädern, sind aber transportabel. Wir suchen nach Flächen, die von Gemeinden für zukünftige öffentliche Bauten freigehalten werden. Ökominihäuser, auch Siedlungen, könnten nach Ablauf der Pachtfrist einfach an neue Standorte transportiert werden». Dieses Konzept mag übliche Wohnformen herausfordern. Doch bestätigen die jüngsten Entwicklungen rund um Tiny Houses, dass diese Form der flexiblen Verdichtung durchaus praktikabel wäre – für diejenigen, die sich freiwillig darauf einlassen wollen.

Wie klein sind die Kosten?

Angaben auf Blogs bewegen sich zwischen 30 000 Franken, bei möglichst viel baulicher Eigenleistung (Haus auf Rädern, ohne Bauland), und 250 000 Franken für ein fixfertig geliefertes Ökominihaus ohne Bauland. Zu bedenken ist, dass Banken in der Schweiz keine Kredite für mobile Häuser vergeben. Und was, wenn einem der minimal Lifestyle doch zu eng wird? Eine Ausweichmöglichkeit wie ein Haus oder eine Reserve auf der Bank sind nicht die schlechtesten Ideen im Hinterkopf, um sich den Abbruch des Experiments leisten zu können.

Die Zukunft der Tiny-House-Bewegung

Auf Youtube erscheinen gerade die ersten Videos von Tiny Housers, welche auch von den Nachteilen ihrer Wohnform erzählen. Wie etwa der Tatsache, dass ein Winzighaus zwar schnell geputzt sei, sich aber noch schneller verschmutzen würde. Von der Tatsache, dass sich Gerüche, vom Kochen oder von Haustieren, penetrant verbreiten und halten. Oder dass einfache Tätigkeiten wie das Bettenmachen einiges an akrobatischen Verrenkungen abverlangen Und dass die Grenzen für geselliges Beisammensein zu Tisch rasch gesprengt sind.

Zurzeit gibt es in der Schweiz noch wenige Langzeit-Erfahrungsberichte über das Wohnen im Tiny House. Es ist nicht abzusehen, dass sich dieser Wohntrend in der Schweiz in nächster Zeit rasant ausbreiten wird. Bestehende Möglichkeiten und Wohnformen werden aber von Umweltbewussten und Experimentierfreudigen zu mehr Vielfalt weiterentwickelt und einige werden ihre Wohnfläche radikal verkleinern. Das Tiny House lässt auf kleinem Raum viel Spielraum zum Ein-, Um- oder Ausstieg zu. Der Wunsch nach innovativen und suffizienten Wohnformen wird am Gesetz rütteln. Wohnen in Designerperlen vor spektakulärer Naturkulisse, wie viele Tiny Houses auf Blogs in den USA in Szene gesetzt werden, wird es in der Schweiz kaum oder selten geben. Weil selbst für die Kleinen zu wenig Platz vorhanden ist.

Die Autorin

Csilla Ott

Aus «casanostra» 147

casanostra 147 - September 2018

Verein für innovative Kleinwohnformen Schweiz

Verein Kleinwohnformen
Der vor wenigen Monaten gegründete Verein Kleinwohnformen Schweiz setzt sich ein für Wohnkonzepte, die innovativ, klein und in den meisten Fällen mobil sind. Er will Kleinwohnformen als anerkannte Form des Wohnens in der Schweiz etablieren und juristisch verankern.

Website: kleinwohnformen.ch
Mail: hallo@kleinwohnformen.ch

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