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Planen für Netto-Null und zehn Millionen

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  Di, 22.06.2021

Die Raumplanung stellt bei der Gestaltung der Zehn-Millionen-Schweiz den Klimaschutz ins Zentrum und fordert die Macht der Gewohnheit und des Grundeigentums heraus. Es braucht dafür eine neue Denkweise.

Der Klimaschutz ist für die Raumplanung beileibe keine neue Aufgabe. Sie hat immer schon auf Umweltnöte und die daraus folgenden ökonomischen Fragen geantwortet: auf naturgegebene wie Lawine und Steinschlag, auf menschengemachte wie Waldzerstörung, Luft- und Wasserverschmutzung und Bodenverschleiss. Klimaschutz ist also Kontinuität und nicht Mode für die Raumplanung – diese grundlegende positive Erkenntnis kann die Weichenstellungen leiten, die zugunsten des Klimaschutzes anstehen.

Die Aufgabe ist alles andere als einfach. Es geht darum, eine Schweiz für zehn Millionen Menschen zu gestalten, innerhalb des heutigen Siedlungsgebiets und mit den bestehenden Infrastrukturen, mit CO2-freier Energie versorgt, ohne explodierenden Konsum, mit einer schonenden Landwirtschaft. So, dass die Artenvielfalt der Tiere und Pflanzen bewahrt bleibt, die Schönheit von Landschaften und von Baugebieten ebenso wie die soziale Gerechtigkeit. Und so, dass allerspätestens 2050 Netto-Null gilt. Mit anderen Worten: Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie.

Neu abwägen

Die Umsetzung wird kompliziert. Bauliche Verdichtung schont die offene Landschaft, ringt aber im Siedlungsgebiet Gruppen gross gewachsener Bäume nieder und erhöht die urbane Hitze mit versiegelten Böden. Ein Stausee liefert CO2-freien Strom, flutet aber eine Landschaft, deren Biodiversität klimarelevant ist. Es ist das Geschäft der Raumplanung, Interessen abzuwägen und Widersprüche zu beseitigen – bisher oft, indem am Ende alles möglich gemacht wurde.

Nun verlangt der Klimaschutz Priorität, denn mit der Alles-geht-Strategie werden wir das Netto-Null-Ziel verfehlen. Doch das Stausee-Beispiel zeigt: Verfolgen wir es blind, dann weiden wir den Planeten für die Energiewende aus wie bisher, einfach mit anderen Mitteln. Das Abwägen bleibt deshalb Programm – nicht mehr von allen Interessen, sondern von allen Klimaschutzinteressen.

Tiefer reichen

Klimaschutz reicht tiefer: bis auf den Grund. Dort, wo unsere eisernen Werte wie Eigentum, Bewegungsfreiheit und Versorgungssicherheit lagern. Wir müssen uns getrauen, sie infrage zu stellen, denn Klimaschutz heisst bauliche Verdichtung, das Ende des Benzinverkehrs und Suffizienz in Konsum und Versorgung. Wer das Fell des Bären waschen will, muss es nass machen. Die Raumplanung hat darin Erfahrung: Sie hat in ihrer Geschichte die Macht der Gewohnheit und des Grundeigentums schon mehrfach pariert – in den letzten Jahren allein mit dem verschärften Raumplanungsgesetz, dem Mehrwertausgleich oder dem Zweitwohnungsgesetz. Auch Grundsätze wie die Trennung von Bau- und Nichtbauzone und Instrumente wie die Inventare schützenswerter Landschaften und Ortsbilder stützen die Klimaraumplanung. In den letzten Jahren sorgte vorab der Bund für weitere solide Grundlagen für den Klimaschutz in der Raumplanung: Die Strategie und der Aktionsplan Biodiversität Schweiz (2017), das überarbeitete Landschaftskonzept Schweiz (2020), die Bodenstrategie (2020). Da sie jedoch oft noch nicht direkt als Bestandteile der Klimapolitik verstanden werden, benötigen sie politische Unterstützung und Akzeptanz. Eine Enttäuschung ist dagegen der Sachplan Verkehr: Während Klimaschutz nur am Rand vorkommt, steht das Papier vor allem für Ausbau der Strasseninfrastruktur wie eh und je – einer Infrastruktur, die wir mit Blick auf Netto-Null gar nicht mehr brauchen dürfen. «Stranded Investments» nennt das die angelsächsische Ökonomie wie so oft treffend.

Wie lässt sich das Netto-Null-Ziel, wie lassen sich Klimaschutzaufgaben nun übertragen ins Handeln – in der institutionellen, staatlichen Raumplanung ? Und in den Alltag der Raumplanerin? Hochparterre hat dazu 25 Tipps zusammengestellt. Der Begriff «Raumplanung» ist darin breit ausgelegt, sodass manche Raumplanerin darob die Hände verwirft: « Ihr vermischt alles, von der Politik bis zur Facharbeit – unscharf!» Diese Unschärfe ist jedoch gesucht: Weil es im Klimaschutz um den Mindset geht. Denn er tangiert so gut wie jede Handlung in der Raumplanung. «Da kann ich nichts bewirken und deshalb geht es mich nichts an» – mit dieser Einstellung wird uns der Planet unter den Füssen wegdorren.

Tipps für die Leitplanken der Raumplanung

Für den Bereich der institutionellen, staatlich bestellten Raumplanung – eben jenen, wo alles vermischt ist – sind in von Hochparterre 15 Tipps zusammengetragen, eine Auswahl ist hier abgedruckt. Die ersten beiden richten sich an die Ausrichtung und die Umsetzung der Raumplanung, während etwa Tipp 7 oder 13 auch private Bauherrschaften betreffen:

1 Klimaanpassung? Klimaschutz

Meist befassen sich raumplanerische Anleitungen im Bereich Klima mit dem Thema Klimaanpassung. Den Planeten retten wir damit nicht. Die Klimaraumplanung setzt den Klimaschutz an erste Stelle. Das Ziel Netto-Null erhält Priorität in der Raumplanung und in ihren Prozessen der Abwägung von Ideologien und Interessen.

2 Sektor? Querschnitt!

«Klimaschutz ist nur ein Aspekt von vielen», hiess es lange. «Vieles ist ein Aspekt des Klimaschutzes», heisst es heute. Er ist nicht Sektor-, sondern Querschnittsaufgabe. Koordinieren allein reicht nicht, Klimaschutz gelingt in gemischten Teams.

7 Chaos vermeiden? Untergrund planen!

Die Energiewende benötigt auch im Untergrund Platz. Für Fernwärme, Baugruben, Wärmepumpen und Glasfasernetze. Kantone und Gemeinden sollen eine Untergrund-Raumplanung starten, damit der Klimaschutz nicht im Chaos im Boden versinkt.

13 Mehr Energie? Solarpflicht!

Die Energiestrategie setzt auf mehr Wasserkraft, doch die ist in den Alpen bereits so stark ausgebaut, dass kaum noch Stauseen möglich sind, ohne dass diese landschaftliche und gesellschaftliche Schäden verursachen. Für den Klimaschutz sind nun die Möglichkeiten der Mehrfachnutzung zentral. So hat das Elektrizitätswerk Zürich die Albigna-Staumauer im Bergell mit Photovoltaikmodulen bestückt, dasselbe plant die Axpo für die Muttsee-Staumauer im Glarnerland. Im Siedlungsgebiet sind Solaranlagen auch Lärmschutzwand oder Beschattung. Die meisten Möglichkeiten bieten Dächer und Fassaden, vor allem jene von Industrie- und Gewerbegebieten und Ställen. Die Schweizerische Energiestiftung rechnet, dass so pro Jahr zehn Prozent mehr Strom produziert werden kann, als die Schweiz zurzeit verbraucht. Der Artikel 18 a des Raumplanungsgesetzes erleichtert diesen Ausbau, indem es für eine Solaranlage in der Regel lediglich ein Meldeverfahren festlegt. Die Klimaraumplanung geht weiter: Für Neubauten und Sanierungen soll eine Solarpflicht gelten. Der Ausbau darf aber architektonische und ortsbauliche Werte nicht opfern.

Es wird dauern, bis Netto-Null in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, von den Parlamenten in Bund und Kantonen genehmigt und vom Bundesgericht gestützt wird. Die Raumplanung wird unterdessen in ihren Büros und Werkstätten experimentieren. Die gesammelten Klimatipps für Raumplaner und Raumplanerinnen sind in der Hochparterre-Ausgabe vom März 2021 zu lesen und werden, nebst Tipps für Architekt*innen und Bauherrschaften Teil des grünen Büchleins «Klima bauen» sein.

Ausblick: Raumagenda 2040

Das Raumkonzept Schweiz von 2012 bezog erstmals alle drei Staatsebenen gleichzeitig ein. Doch das Wort Klimawandel kommt darin lediglich fünfmal vor, der Klimaschutz gar nicht. Die 10-Millionen-Schweiz braucht ein aktualisiertes Raumkonzept, und der Klimaschutz muss darin Priorität erhalten. Die Arbeiten sollen am besten morgen beginnen mit Bund, Kantonen und Gemeinden an Bord, und das Klimaraumkonzept Schweiz soll ab 2025 gelten. Um dem Prozess auf die Sprünge zu helfen, versammelt Hochparterre Anstösse zur Überarbeitung des Raumkonzepts. In seinem Beitrag vom Mai 2021 schreibt auch Damian Jerjen, Direktor von Espacesuisse : « Der Klimaschutz steht über allem und ist der rote Faden durch das Konzept.» Wir werden sehen, ob und wie das Bundesamt für Raumentwicklung ARE den Ball aufnehmen wird.

Jede und jeder

Diese grossen offenen Fragen zum Klimaschutz – in der Raumplanung wie überall – können wir nur als Gesellschaft beantworten. Niemand zerstört die Erde freiwillig, aber niemand wird gerne zu etwas gezwungen. Wir brauchen Forschung, Entwicklung und Technik, wir brauchen Diskussion, Vermittlung und Austausch. Dieser Weg lässt sich nicht abkürzen, auch wenn die Zeit drängt.

Unseren persönlichen Handlungsspielraum können wir dagegen schon jetzt nutzen, und viele Menschen tun das, indem sie überlegen, wie oft sie Fleisch essen oder fliegen – und indem sie klimaschützend bauen. Wer Boden und Raum besitzt, hat einen vergleichsweise grossen Hebel in der Hand. In Anlehnung an den Evergreen «Gute Architektur braucht eine gute Bauherrschaft» heisst es deshalb ganz genauso: «Klimaschutz braucht eine klimaschützende Bauherrschaft!»

Die Autorin

Rahel Marti
Redaktorin Hochparterre

Aus «casanostra» 161

Klima bauen


Edition Hochparterre, Herbst 2021. Das kleine grüne Buch zeigt auf, wie wir klimagerecht planen und bauen können – von der Raumplanung über die Architektur bis zur Landschaft. Ein Lexikon für den Weg zu Netto-Null mit über 60 konkreten, anschaulichen Tipps von A wie Aushub bis Z wie Zusatzstoffe.

Vorbestellung: verlag@hochparterre.ch

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