Grüne Oasen auf dem Dach
Dächer haben erstaunliches Potenzial. Wer sie begrünt, erhöht den Wohnkomfort, entlastet das Portemonnaie und beeinflusst das lokale Klima positiv. Mit etwas Geschick entsteht dabei auch ein Paradies für bedrohte Pflanzen und Tiere. Das ist umso wichtiger, als in der Schweiz immer weniger Magerwiesen existieren.
Viele Vorteile, keine Nachteile
Wer denkt, begrünte Dächer nützten nur der Natur, der irrt. Auch für den Menschen bieten sie zahlreiche Vorteile :
- Siedlungsentwässerung : Dachbegrünungen halten 40 bis 90 Prozent des Regenwassers zurück, lassen es verzögert abfliessen und geben einen Teil über Verdunstung ab. Das entlastet die Kanalisation.
- Energiebedarf : Dachgärten sind natürliche Klimaanlagen. Durch die Verdunstung von gespeichertem Regenwasser sorgen sie im Sommer dafür, dass sich die obersten Etagen weniger stark erhitzen. Im Winter verbessern sie den Kälteschutz und mindern so die Heizkosten.
- Temperatur : Aufgeheizte Strassen und Gebäudeflächen machen Städte im Hochsommer zu Wärmeinseln. Die Temperatur kann bis zu 4 Grad höher liegen als ausserhalb. Grünflächen tragen dank Absorption und Wasserverdunstung zur Abkühlung des lokalen Klimas bei.
- Lebensraum : Begrünte Dächer werten die Umgebung optisch auf, und als Garten genutzt, bieten sie zusätzlichen Lebens- und Erholungsraum.
- Luftqualität : Vegetation filtert Staubpartikel und Schadstoffe aus der Luft.
- Lärm : Dachbegrünungen verbessern den Schallschutz von Gebäuden.
Potenzial nutzen
Laut einer Schätzung der Schweizerischen Fachvereinigung Gebäudebegrünung gibt es in der Schweiz rund 450 km² Dachfläche – die Mehrheit davon sei ungenutzt, also nicht mit einer Solaranlage oder Grünfläche versehen. Die Politik will dies ändern. Praktisch alle Gemeinden verlangen heute, dass Flachdächer von Neubauten begrünt sein müssen. Diese Vorschriften sind nicht überall gleich strikt. So besteht in Zürich nur eine Begrünungspflicht, soweit dies wirtschaftlich tragbar ist. Basel ist strenger : « Ungenutzte Flachdächer sind mit einer Vegetationsschicht zu überdecken. » Bern wiederum lässt Ausnahmen zu, wenn die Flachdächer als Terrassen oder Oblichter genutzt werden. Und in Luzern müssen Hausbesitzer Flachdächer erst ab einer Grösse von 25 Quadratmetern begrünen, in St. Gallen sogar erst ab 100 Quadratmetern.
Auch bei Altbauten werden die Vorschriften strenger, das gilt besonders in den Städten : Wird ein älteres Gebäude wärmetechnisch saniert und zugleich das Dach erneuert, verlangen die Behörden eine nachträgliche Begrünung der Flachdächer.
Eine Investition, die sich auszahlt
Eine extensive Dachbegrünung für ein Einfamilienhaus kostet etwa 15 bis 40 Franken pro Quadratmeter, ein normales Kiesdach dagegen nur rund 20 Franken. Längerfristig ist das Geld aber gut investiert : Ein begrüntes Dach hat im Schnitt eine doppelt so hohe Lebensdauer, weil die Begrünung die Dachhaut schützt. Rafael Schneider bezeichnet die früher oft gehörte Kritik, Pflanzen auf dem Dach würden dem Haus irgendwann Schaden zufügen, als Ammenmärchen. « Pflanzen sind intelligent. Sie bohren nicht irgendwo ein Loch, wo es für sie nicht sinnvoll ist. Das heisst, eine Pflanze wird ihre Wurzeln nur dann durch die Dachhülle stossen, wenn diese ohnehin einen mechanischen Defekt aufweist. » Zudem sei die Abdichtungstechnik heute viel besser als früher. Wenn ein begrüntes Dach längerfristig Probleme mache, sei das auf schlechte Planung oder schlechtes Material zurückzuführen. « Apropos » , sagt Schneider, « die Dächer des Seewasserwerks Moos sind seit über 100 Jahren dicht. »
Welch ein romantischer Anblick ! Ein altes Bauernhaus, dessen Dach völlig mit Gras und bunten Wildblumen überwuchert ist. In Norwegen und Island sieht man dies oft, denn dort nutzt man die isolierende Wirkung von Gras- und Torfsoden seit Jahrhunderten. Die Nordeuropäer waren aber bei weitem nicht die ersten, welche die Vorteile grüner Dächer erkannten. Die « Hängenden Gärten der Semiramis » in Babylon am Euphrat entstanden bereits im 6. Jahrhundert und gelten als eines der sieben Weltwunder. Auch im antiken Athen und im alten Rom wurden Flachdächer begrünt und bewirtschaftet.
Ein Meisterwerk – per Zufall
Hierzulande gehörten begrünte Dächer lange kaum zur Baukultur. Dann entstand 1914 in Zürich-Wollishofen durch Zufall ein Meisterwerk der Dachbegrünung. Während des Ersten Weltkriegs deckte man rund drei Hektaren Dachfläche des Seewasserwerks Moos mit 20 Zentimetern Erdaushub zu. Dieser diente zur Kühlung des Wasserreservoirs und zur Tarnung gegen Bombenangriffe. Für die Natur war diese Massnahme ein Volltreffer : Heute leben über 180 Pflanzenarten auf diesem Dach, darunter auch neun verschiedene Orchideen. « Viele dieser Pflanzenarten sind gefährdet oder existieren nur noch dort » , sagt Rafael Schneider vom Institut Umwelt und Natürliche Ressourcen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ( ZHAW ) .
Mittlerweile reisen Spezialisten aus der ganzen Welt nach Wollishofen, um sich dieses Dach anzusehen. Vorbildcharakter hatten im 20. Jahrhundert. jedoch auch der Umweltaktivist und Künstler Friedensreich Hundertwasser und der Schweizer Architekt Le Corbusier. Mit ihren Überlegungen zur
Nutzung von Dächern entwickelten sie wichtige Argumente für die Begrünung von Dachflächen und prägten damit Generationen von Architekten.
Über 90 Prozent der Magerwiesen verloren
« In der Schweiz ist die Wichtigkeit begrünter Dächer inzwischen breit anerkannt » , sagt Schneider. Ein wesentliches Argument ist der Naturschutz : In den letzten70 Jahren gingen im Mittelland durch die Intensivierung der Landwirtschaft und die Zersiedelung über 90 Prozent der Magerwiesen verloren. Dächer können Pflanzen, die auf nährstoffarme Böden angewiesen sind, eine neue Heimat bieten. Schneider : « In nährstoffreichen Böden leben viele Pflanzen, die stark wachsen und alles zudecken, daher ist die Artenvielfalt in mageren Böden grösser. » Ein Dach sei in der Regel ein rauer, extremer Standort – trocken, windig, besonders sonnig, warm und nährstoffarm.
Auch die Fauna profitiert von begrünten Dächern : Vom Aussterben bedrohte Käfer, Schmetterlinge oder Solitärbienen finden eine neue Heimat. Vögel wie der Kiebitz brüten sogar auf den hochgelegenen Biotopen.
Die Autorin
© zvg/mad
Mirella Wepf
Journalistin
Extensiv begrünen, Diversität fördern
Wer sein Dach bepflanzt, wählt in der Regel eine intensive oder eine extensive Begrünung :
© Optigrün
Intensiv
Für eine aufwendige Begrünung mit Stauden, Sträuchern, manchmal sogar Bäumen braucht es in der Regel mehr Erdgut. Und die Pflege ist aufwendiger. Dazu gehört die Versorgung mit Wasser und Nährstoffen. Ein intensiv begrüntes Dach wird meist vielfältig genutzt, z. B. für Terrassenflächen, Sitz- und Gehbereiche.
© Rafael Schneider
Extensiv
Eine naturnahe Begrünung mit Kräutern, Gräsern, Moosen, Sedum-Arten ( Fetthennen ) und sogar Orchideen ist mit geringem Aufwand zu erreichen und auch auf geneigten Dächern möglich. Etwa 10 cm Erdgut reichen.
Wer die Biodiversität fördern will, setzt auf extensive Begrünung. Doch damit allein ist es nicht getan, erklärt Christoph Winistörfer, Fachmann für naturnahen Garten- und Landschaftsbau, Geschäftsleitungsmitglied der Firma « naturag » und Berater für den Hausverein Luzern. Entscheidend sei die verwendete Samenmischung. Winistörfer stört sich daran, dass Architekten und Dachdecker ihren Kunden oft ein Bau-Gesamtpaket mitsamt Begrünung verkaufen. Die Natur bleibe dabei häufig aussen vor, sagt er. « Die verwendeten Saatmischungen enthalten meistens Züchtungen, welche das Hauptaugenmerk auf die Ästhetik legen. Aus ökologischer Sicht sind sie aber nicht zu empfehlen. » Die Chance, auf dem Dach Pflanzen, die am Boden kaum mehr vorkämen, wieder einen Platz zu geben, gelte es zu nutzen, indem man bewusst eine einheimische Wildstaudensamenmischung verwende.