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Für die Zukunft bauen und erneuern

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  Mi, 23.11.2022

Bestehende Häuser abreissen und an ihrer Stelle neue bauen, schadet dem Klima erheblich. Deswegen fordern jetzt immer mehr Architektinnen und Planer einen Paradigmenwechsel im Erneuern und Bauen.

«Ein Haus schöner und stolzer als das andere. Etwa das Fachwerkhaus an der Höhematte in Interlaken. Es muss einem Neubau weichen. Oder der fünfgeschossige Strickbau im ausserrhodischen Rehetobel: auch er ist dem Abriss geweiht. Und dann die unzähligen Mehrfamilienhäuser aus der Nachkriegszeit- unprätentiöse, oft solide Riegel, wie etwas jene in Zürich-Seebach oder der Bergacker in Zürich-Affoltern: eine ganze Siedlung soll weggeworfen werden, in über 400 Wohnungen sind ausserdem rund 900 Menschen von den Plänen betroffen.

Das sind nur vier Beispiele. Jedes Jahr werden in der Schweiz Tausende von Häusern zu Bauschutt gemacht. Abriss und Neubau an derselben Stelle sind hierzulande derart gängige Praxis, dass dafür sogar ein eigenes Wort kreiert wurde: Der « Ersatzneubau ». 500 Kilogramm Abfall fallen durch diese Vernichtung von Baustruktur an-pro Sekunde. Das ergibt pro Jahr einen Zug, der Zürich mit Kapstadt verbindet, rechnet Rahel Dürmüller vor. Sie ist Mitglied von Countdown 2030, einer Gruppe von klimabewussten Architekt*innen. Der Bauschutt gelangt in der Realität aber nicht nach Südafrika, sondern zum Teil in Deponien, wo es aufgrund der hohen Bautätigkeit bereits Platznot gibt. In Liestal BL etwa ist eine in den Wald gebaute Deponie bereits voll, wie der WWF Region Basel aufdeckte- dies auch deshalb, weil die Betreiber aus anderen Regionen Bauabfall importiert hatten.

Nicht aller Bauschutt wird in Deponien entsorgt- einen Teil verwendet man thermisch, beispielsweise zum Heizen, oder er geht in die Wiederverwertung. Aber das klinge besser, als es sei, sagt Rahel Dürmüller: «Um Beton zu rezyklieren, braucht es beinahe mehr Energie als für die Herstellung von neuem.» Unter dem Strich sei Recycling zwar besser als Wegwerfen, aber noch viel besser wäre es, die Strukturen zu erhalten.

Baumaterialien sind für beinahe zehn Prozent der Treibhausgase in der Schweiz verantwortlich, das hat die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA ausgerechnet. International macht der Bausektor 11 Prozent der globalen energiebedingten Emissionen aus, sagt die Internationale Energie Agentur (IEA). Insbesondere die Herstellung von Stahl und Beton verursachen sehr grosse Mengen an CO2. Aber während Politik und Hauseigentümer*innen sich der Emissionen, die in einem Haus durch den Betrieb (Wärme, Warmwasser, Strom) entstehen, mittlerweile bewusst sind, sieht es punkto Grauer Energie noch immer anders aus: Die Treibhausgase, die in der Herstellung und beim Transport von Materialien sowie im Bau entstehen, sind in Fachkreisen erst seit kurzem Thema. Und in der breiten Öffentlichkeit noch fast gar nicht. Countdown 2030 will deshalb wachrütteln. Das taten sie kürzlich mit einer Ausstellung zum Thema Abriss im Schweizer Architekturmuseum in Basel. Ein fortlaufendes Projekt der Gruppe ist der partizipatorisch angelegte Abriss-Atlas im Internet. Hier finden sich auch die eingangs erwähnten Gebäude, mit Foto und einer kurzen Beschreibung. Jede und jeder kann hier Häuser eintragen, die abgerissen werden. Die Region Zürich, Genf, Lausanne und Basel-Stadt sind Hotspots, aber im ganzen Mittelland wird fleissig abgerissen.

Falsche Anreize führen dazu, dass ganze Häuser weggeworfen werden

Das hat verschiedene Gründe. Allem voran sind Ersatzneubauten für institutionelle Anleger wie Pensionskassen Renditevehikel: Durch den Abriss werden jahrzehntealte Mietverträge legal aufgelöst, in den neuen Häusern ziehen neue Menschen in oft sehr viel teurere Wohnungen – mit ihnen lässt sich mehr Rendite abschöpfen. Ausserdem braucht es für neue Häuser viele Materialien – das freut die Wirtschaft. Dass Gebäude wegen des Klimas energetisch saniert werden müssen, treibt die Dynamik zusätzlich an-es ist absurd: mit dem Ziel Netto Null baut man neue, energieneutrale oder sogar energiepositive Häuser, aber durch den Abriss und Neubau verursacht man Treibhausgasemissionen in Dimensionen, die ein neueres Haus während seiner gesamten Lebenszeit im Betrieb nie erreichen wird. Womöglich wussten das die Politiker*innen und Behörden noch nicht, als sie jenes Gesetz ausarbeiteten, welches das Wegwerfen ganzer Häuser fördert: Seit dem 1.Januar 2020 nämlich können bei Abriss und Neubau die Rückbaukosten von den direkten Bundessteuern abgezogen werden.

Solche Fehlanreize müssen dringend beseitigt werden, fordert Countdown 2030 und hat deshalb auch eine Petition gestartet. Sie verlangt von Bundesrat und Parlament zudem, dass die Entsorgungskosten bei Abrissen verteuert werden, es für diese überhaupt eine Bewilligungspflicht gibt und dass die öffentliche Hand – Gemeinden, Kantone, Bund – bei ihren eigenen Bauten mit gutem Beispiel vorangeht.
Wer in einem Haus wohnt, das einem institutionellen oder privaten Besitzer gehört, hat grundsätzlich keinen Einfluss darauf, was mit ihm passiert, wenn es saniert werden muss. Aber wer ein Haus besitzt und über seine Zukunft entscheidet, betätigt in dem Moment einen der grösseren persönlich zur Verfügung stehenden Hebel für oder gegen das Klima.

Dass die klimafreundliche Erneuerung des Bestandes auch eine Aufgabe ist ,die Architektinnen und Planer zunehmend als willkommene kreative Herausforderung sehen, zeigt eine Entwicklung an den Universitäten und Hochschulen: Heute Studierende wollen jetzt lernen, wie Bauen im Bestand und Weiterbauen geht, sie fordern das sogar mit Nachdruck, sagen verschiedene Fachleute – auch Rahel Dürmüller von Countdown 2030: «Unser Beruf wurde politischer. Soziale und ökologische Zusammenhänge werden wichtiger. Dabei wollen wir natürlich weiterhin hochstehende Baukultur schaffen.»

Inspiration, um gemäss dem Nachhaltigkeitsprinzip «Repair, Reuse, Recycle» hochstehend zu erneuern, kommt aus den Benelux-Ländern und auch aus Frankreich: Letztes Jahr hat das Architekturteam Lacaton Vassal mit dem Pritzker-Preis quasi den Nobelpreis für Architektur zugesprochen erhalten. Lacaton Vassal sind Expert*innen des Weiterbauens – in Bordeaux haben sie gezeigt, wie selbst ein riesiger Wohnblock mit Sozialwohnungen nicht nur erneuert, sondern auch aufgewertet werden kann.

Eine Expertin für das Weiterbauen bei Einfamilienhäusern und anderen kleinen Wohnbauten ist die Westschweizerin Mariette Beyeler. Sie sieht diese Häuser als «wunderbaren Rohstoff» zum Weiterentwickeln und sie neuen Bedürfnissen anzupassen. Auch für ältere Personen, die Mühe haben, ihr Haus, das sie einst mit Pensionskassengeld finanzierten, überhaupt halten zu können, sei das Weiterbauen eine Alternative, sagt Mariette Beyeler: «Ihnen bietet sich eine auf den ersten Blick paradox anmutende Alternative: Anstatt zu verkaufen, können sie in die Liegenschaft investieren, um eine zusätzliche Wohnung zu schaffen, die sie dann vermieten. So haben sie Einnahmen und können selber weiter im Haus wohnen.» Unter Umständen könnten schon dreissig zusätzliche Quadratmeter ausreichen, um das Haus zu entflechten, neu zu organisieren und die Wohnungen unabhängig voneinander zu erschliessen, sagt Beyeler. Auch ökologisch macht das Sinn, denn wer sein Haus und Grundstück heutzutage verkauft, muss damit rechnen, dass der neue Besitzer-oft ein institutioneller Investor – abreisst und neu baut.

Es braucht ein CO2-Budget beim Bauen

Damit endlich grundsätzlich weniger abgerissen und mehr im Bestand erneuert und weiter gebaut wird, braucht es neue Gesetze. Die Bauphysikerin Nadège Vetterli, die bei Anex Ingenieure arbeitet und als Externe fürs Bundesamt für Energie das Forschungsprogramm «Gebäude und Städte» leitet, fordert eine Klimabilanzierung bei Bauvorhaben. Sie sagt: «Es braucht ein Gesetz, das dafür sorgt, dass nicht nur die Betriebsenergie bilanziert wird, sondern auch die graue Energie.» Es soll also ein CO2-Budget beim Bauen geben. Ein solches Gesetz wird nun in Bundesbern erarbeitet, die Kommission hat bis 2024 Zeit. Was die Einfamilienhäuser betrifft, gibt es aber noch einen zweiten grossen Hebel, sagt Nadège Vetterli: «Es geht um den Flächenbedarf pro Person. Dieser ist in den CO2-Berechnungen besonders relevant, wie sich gezeigt hat- und in Einfamilienhäusern ist der Flächenverbrauch besonders hoch. Es soll deshalb künftig einen Grenzwert geben oder eine personenbezogene Berechnung.» Diese Diskussion sei aber noch weniger weit gereift. Und sie wird es schwieriger haben, «denn alles, was in Richtung Suffizienz geht, mögen die Leute weniger» sagt Nadège Vetterli. Hingegen sieht sie bei Einfamilien- und kleineren Mehrfamilienhäusern ein grosses Potenzial für das Weiter – und Wiederverwenden bereits bestehender Bauteile respektive zuvor anderswo genutzter Materialien, «weil man kleinere Mengen braucht als bei grossen Gebäuden.»

Den Planungsprozess umdrehen

Geht es um das Retten, Aufbereiten und Zugänglichmachen von bestehenden Materialien und Bauteilen, ist man bei Karin Sidler an der richtigen Adresse – und bei ihrem Sozialunternehmen Syphon AG in Brügg bei Biel BE. Dieses hat von Bodenbelägen, Boilern, Dachziegeln, Fernstern, Lüftungsrohren, Radiatoren bis zu Zahnglashalterungen so ziemlich alles im Angebot. Sidler nimmt ein zunehmendes Interesse am Wiederverwenden von Bestehendem wahr, «viele Eigenheimbesitzer kommen zu uns, aber auch Mieterinnen und Verwaltungen.» Das noch vor zwei Jahren gut gefüllte Holz- und Parkettlager sei inzwischen fast leer: «Alles, was wir haben, geht sofort wieder raus.» Das hat mit Lieferengpässen bei neuen Produkten zu tun, aber auch damit, dass die Leute zunehmend umdenken, weiss die Geschäftsleiterin und Expertin für Kreislaufwirtschaft.

Mit bestehenden Materialien zu bauen, bedeutet laut Karin Sidler: «Man muss den gesamten Planungsprozess umdrehen. Ich muss das Material nämlich kaufen, bevor ich den Plan mache – denn dieser richtet sich nach dem Massen der Bauteile, die ich einkaufen kann.» Die Schwierigkeit dabei sei zum einen, dass eine Investorin oder ein Bauherr Geld auf den Tisch legen muss, bevor der Plan vorliegt. Die zweite Schwierigkeit liege im Baugesuch: «Wenn ich die Bauteile habe, kann ich den Plan machen und anschliessend das Baugesuch einreichen – aber es gibt beim Wiederverwenden von Materialien stets Ungewissheiten – und wie die Gemeinden Baubewilligungen erteilen, ist sehr unterschiedlich. Im ungünstigen Fall gerät man einen Teufelskreis, weil ohne Baubewilligung das Geld nicht fliesst, das es braucht, um die nötigen Materialien zu kaufen.» Hilfreich, sagt sie, seien Gesetze , die die Kreislaufwirtschaft fördern und vereinfachen. Und wie es aussieht, will eine grosse Mehrheit der Bevölkerung genau das ohnehin: Gerade sagten die Stimmberechtigten im Kanton Zürich mit sagenhaften 89.3 Prozent Ja zu einem Kreislauf-Artikel, der den schonenden Umgang mit Ressourcen in der Kantonsverfassung verankert. Und parallel ist man – besonders an der ETH Zürich und Lausanne und bei der EMPA- daran, herauszufinden, wie neue Gebäude von Beginn an kreislauffähig gebaut werden können, indem sie sich zu einem späteren Zeitpunkt einfach wieder auseinandernehmen und neu zusammensetzen lassen. So können all die schönen und soliden Häuser, in denen so viel unsichtbare Energie steckt, künftig ziemlich einfach auseinandergenommen und ihre Teile neu verwendet werden. Mit dem Wegwerfen ist dann Schluss.

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