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Wir sorgen vor, planen, denken voraus, äufnen eine dritte Säule; bloss beim eigenen Zuhause – der mitunter wichtigsten Investition im Leben – geht der Vorsorgegedanke häufig vergessen. Oft werden Wohnungen gekauft oder Häuser gebaut, welche später zum Bumerang werden. Das müsste nicht sein.

© Halfpoint/iStock

Die meisten Menschen sind irgendwann in ihrem Leben zeitweilig handicapiert: Nach dem Beinbruch ist der Badewannenrand ein schier unüberwindbares Hindernis; bricht man sich den Arm, wird gar das lapidare Binden der Schuhe zur Herausforderung, an welcher manch einer grandios scheitert. Nach ein paar Wochen jedoch ist der Knochen heil und der Gedanke an die Unzulänglichkeiten des Körpers sowie dessen Gebrechlichkeit verflogen.

Dabei ist diese Lebenserfahrung Alltag für nicht wenige: In der Schweiz leben gemäss Zahlen des Bundesamts für Statistik BFS über 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung – 484 000 davon mit einer starken Beeinträchtigung. Für sehr viele dieser Menschen sind auch die paar wenigen Treppenstufen zur Hochparterrewohnung ein Hindernis; die hohen Küchen- und Einbauschränke kein Gewinn.

Aber auch im Alter tauchen andere Ansprüche an die Wohnung auf. Und die Gruppe wächst: Ende letzten Jahres lebten gemäss BFS in der Schweiz 1,1 Millionen über 65-Jährige – davon fast ein Drittel über 80-Jährige. Auch sie profitieren, wenn Architekten, Planer und Bauherren an mehr Eventualitäten denken, als die Gegenwart dies hergibt. «Ich glaube, es hat zum Teil auch mit fehlendem Bewusstsein zu tun, dass das Thema ‹Barrierefreiheit› immer noch viel zu wenig in die Planung mit einbezogen wird», mutmasst Sandra Remund, Vorstandsmitglied des Hausvereins Zentralschweiz. Sie und ihr Team der Architektur-Firma Altervia GmbH haben sich auf die Entwicklung von Lebensräumen für älter werdende Menschen spezialisiert. «Mit einem Umdenken und dem Loslassen von ausschliesslich design-gesteuerten Vorstellungen wäre schon viel gewonnen.»

Die kleinen grossen Hürden

Oft stolperten gerade ältere Menschen über Kleinigkeiten. Etwa in der Küche, wo heute häufig Herde mit Berührungssensoren eingebaut werden. Ein Problem, wenn ob zunehmender Alterssichtigkeit die kleinen digitalen Ziffern nicht mehr erkannt werden: «Zudem nimmt die sensorische Fähigkeit ab und das Bedienen mit dem Finger wird zum Problem. Die Konsequenz für diese Person ist, dass sie nicht mehr selber kochen kann, obwohl sie dazu mit einem anderen Herd durchaus noch in der Lage wäre.»

Auch Menschen mit Behinderung scheitern häufig an kleinen Dingen, welche eine grosse Hürde darstellen: die Höhe der Sonnerie, der Gegensprechanlage, der Briefkästen. Weiter geht in der Planung ab und an die Bedienbarkeit von Türen und der ungehinderte Zugang zu Einstellhallen oder zu wichtigen Nebenräumen wie Keller und Waschküche vergessen, wie Nicole Woog, Architektin und Leiterin der Koordinationsstelle Bauen und Umwelt der Pro Infirmis bemängelt: «Stufen und Schwellen können ganze Gebäudeteile für Menschen im Rollstuhl unzugänglich machen und sie ausschliessen. Dies wäre einfach zu vermeiden.» Barrierefrei zu bauen, ist überdies kein Störfaktor für Personen ohne Handicap. Im Gegenteil: Die hindernisfreie Bauweise verbessere die Benutzbarkeit des Gebäudes und den Komfort für alle Benutzer: «Es profitieren ältere Menschen, Personen mit kleinen Kindern und Kinderwagen, mit Reisegepäck oder schweren Einkäufen und sie erleichtert den Ein- und Auszug. Die hindernisfreie Bauweise ist somit ein Mehrwert für die gesamte Gesellschaft.» Einer, der sich überdies auszahle, meint Sandra Remund: «Wenn die eigene Wohnung es erlaubt, so lange wie möglich selbständig zu leben, kann manch ein frühzeitiger Umzug in eine stationäre Einrichtung verhindert werden.»

Noch Luft nach oben

Die Situation und die Denkweise habe sich freilich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Seit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes 2004 und der SIA-Norm 500, welche das hindernisfreie Bauen vorschreibt, ist das Thema bei der Planung stärker präsent.

Bei öffentlichen Gebäuden sei die Hindernisfreiheit seither weit fortgeschritten. «Im Wohnungsbau hingegen hapert es noch», sagt SP-Ständerätin Pascale Bruderer, Präsidentin des Dachverbands der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap: «Vor allem ältere Mehrfamilienhäuser sind für Menschen mit Behinderung oft ein Problem. Es gibt viel zu wenig Wohnungen, die behindertengerecht gestaltet sind.» Immerhin habe sich die Situation bei neu erstellten Miethäusern verbessert.

Dabei sei der Bau von barrierefreien Wohnungen nicht primär eine Kostenfrage: Neubauten hindernisfrei zu erstellen, mache auf der Kostenseite ein Plus von etwa 2,6 Prozent aus, erläutert Nicole Woog: «Je früher die hindernisfreie Bauweise im Planungsprozess mit einbezogen ist, desto günstiger wird sie.» Aufwendiger sind Anpassungen von älteren Gebäuden: Durchschnittlich beträgt der Mehraufwand bei Umbauten 5,9 Prozent. Es könne auch Ausreisser nach oben geben, räumt Pascale Bruderer ein: «Die Abklärungen lohnen sich immer. Auch wenn es vereinzelt Fälle gibt, in denen sich ein behindertengerechter Umbau aufgrund fehlender Verhältnismässigkeit schlicht nicht umsetzen lässt.» Richtig kompliziert kann es zudem werden, wenn ein Gebäude unter Denkmalschutz steht.

Bauherrschaften sensibilisieren

Dass Architektinnen und Bauplaner vermehrt an Hindernisfreiheit denken, ist gut. Warum jedoch ist die Fragestellung bei der Bauherrschaft so wenig präsent? Oft werde die Möglichkeit eines schweren Handicaps ausgeschlossen und das eigene Altern verdrängt: «Wer nicht selber bereits direkt oder indirekt betroffen ist, schenkt dem Thema wenig Aufmerksamkeit », stellt Bruderer fest. Dabei ist doch ganz besonders im Alter ein Wegzug aus der liebgewonnenen Umgebung eine markante Zäsur; eine grosse Belastung noch dazu. Die Betroffenheit im eigenen Umfeld könne jedoch zum Umdenken bewegen, sagt Architektin Sandra Remund: «Ich mache die Erfahrung, dass Menschen, welche sich gerade mit der Gebrechlichkeit der eigenen Eltern auseinanderzusetzen haben, sich des Problems plötzlich bewusst werden. Dass ein fehlender Handlauf oder ein Türschliesser dazu führen können, dass eine fragile Person das Haus nicht mehr verlassen kann.»

Das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt, dass Wohnbauten mit mehr als 8 Wohneinheiten hindernisfrei gebaut werden müssen. Für Pro Infirmis ist dieser Grenzwert zu hoch angesetzt, hält Nicole Woog dagegen: «Mehrfamilienhäuser mit so vielen Wohnungen sind fast nur in den grösseren Zentren zu finden. Idealerweise würden Wohnbauten ab 4 Wohnungen hindernisfrei gebaut.» Immerhin seien die Kantone frei, den vom Bund vorgeschriebenen Grenzwert zu unterschreiten. So müssen etwa in den Kantonen Basel-Stadt und Genf neu bewilligte Wohnbauten ab 2 Einheiten hindernisfrei sein. Mit den kantonalen Gesetzesrevisionen verbesserten sich die Anforderungen aber laufend, ergänzt Woog.

Das Bohren dicker Bretter

Dass die Vorgaben des Bundes dereinst weiter verschärft werden, unterstützt auch Ständerätin Pascale Bruderer. Immerhin habe die Schweiz die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert – sei aber in deren Erfüllung im Rückstand: «Es hat sich einiges getan, wir haben aber noch zu viele Defizite in der Gleichstellung von behinderten Menschen. Wir leisten sehr viel Überzeugungsarbeit im Departement des Innern.» Die Frage des gesetzlich vorgeschriebenen Wohnungsangebots für Menschen mit Handicap müsse unbedingt weiter diskutiert werden.

© Andrey Popov/iStock

Der Autor

Andreas Käsermann© Ruben Sprich

Andreas Käsermann
Journalist

Aus «casanostra» 143

Hindernisse selbst im Bundeshaus

Kuppelhalle im Bundeshaus© Parlamentsdienste

Wie wenig sensibilisiert die Schweizer Politik hinsichtlich Barrierefreiheit lange Zeit war, zeigt auch die Tatsache, dass das Bundeshaus fast neunzig Jahre lang nicht rollstuhlgängig war.

Erst 1991 sah sich Bundesbern mit der damaligen Wahl des unlängst verstorbenen Marc F. Suter (FDP/BE) in den Nationalrat mit einem ernsthaften Problem konfrontiert: Der querschnittgelähmte Nationalrat Suter konnte nicht durch die übliche Pforte in den Ratssaal und in die Sitzungszimmer gelangen.

In aller Eile wurden mehrere Treppenlifte in Auftrag gegeben, die jedoch bei der ersten Session Suters noch nicht montiert waren. Marc F. Suter musste aus diesem Grunde während seinen ersten Tagen im Amt noch über einen Lieferanteneingang ins Bundeshaus gelangen.

Ganz hindernisfrei ist das denkmalgeschützte Bundeshaus übrigens auch heute nicht: Das offizielle Rednerpult der grossen Kammer ist für den ebenfalls an den Rollstuhl gebundenen Nationalrat Christian Lohr (CVP/TG) unerreichbar. Seine Voten hält Lohr darum jeweils im Halbrund vor dem Ratskollegium.

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