Schliessen

Casafair Logo

Alte Sorten in neuen Töpfen

, , , ,

  Do, 04.04.2019

Sie gärtnern auf ehemaligen Fussballfeldern, in grob gezimmerten Hochbeeten, auf Dachgärten oder Balkonen, und sie ziehen Gemüse auf Verkehrsinseln. Die modernen urbanen Gärtnerinnen und Gärtner machen sich die städtische Erde auf ganz neue Art und Weise untertan.

Das Gärtnern in der Stadt liegt im Trend – diesen Satz liest man oft, falsch ist er trotzdem. Städterinnen und Städter mit «Härd» unter den Fingernägeln gab es schon immer. Sie tummelten sich in Vorgärten, Hinterhofgärten, Lauben, Schreber- und Familiengärten, sie pflegten ihre «Pflanzblätze» und Pünten oder verwandelten ihre Balkone und Dachterrassen in grüne Oasen.

Innovative Kooperativen

Aber: Das Gärtnern in der Stadt hat sich verändert. Und wie! Etwas fällt besonders auf: Früher bewirtschafteten die Hobbygärtner mit Vorliebe ihr eigenes Fleckchen, heute engagieren sie sich vielfach in Kollektiven und Kooperativen.

In praktisch jeder Schweizer Stadt findet man heute innovative Gemeinschaftsgartenprojekte. Sei es auf dem Terrain Gurzelen in Biel, im ehemaligen Fussballstadion Hardturm in Zürich, am Flooz in Lichtensteig oder auf dem Areal Pierre-à-bot in Neuchâtel. Besonders umtriebig scheinen die grünen Daumen in Basel zu sein. Auf der Webseite des Vereins «Urban Agriculture Basel» sind mehr als 40 Gartenprojekte aufgeführt, denen sich Interessierte anschliessen können.

Mobile Gärten

Die Stadt Bern setzte eine Weile auf mobile Gärten und stellte Quartierbewohnerinnen und -bewohnern grosse Kisten zum Bepflanzen zur Verfügung. Ein erstes Pilotprojekt lancierte Stadtgrün Bern im Innenhof der Lorrainestrasse 15. Dort zeigte sich eindrücklich, dass mobile Gärten auch an Standorten möglich sind, an denen sonst kein Gemüse wächst.

Auch die Kirchgemeinde der Berner Markuskirche sprang auf den «Urban Gardening»-Zug auf und richtete neben dem Gotteshaus Beete aus Palettkisten ein, die von Gemeindemitgliedern gepachtet werden konnten. Zusätzlich bepflanzten Schülerinnen und Schüler des kirchlichen Unterrichts leuchtend gelbe Einkaufswagen und betreuten diese als Botschafter des neuen Grüns vor ihrer eigenen Haustüre.

Tradionelles Hochbeet wird zum Symbol der Moderne

Müsste man den aktuellen Gartentrend in Städten in Stichworten beschreiben, dann stünde der Begriff «Kistenbeet» vermutlich an oberster Stelle. Während vor 20 Jahren noch strenge Geranien-Vorschriften der Vermieter das Stadtbild bestimmten, prägen heute grob gezimmerte Kisten und andere Hochbeete wie ausrangierte Badewannen, Schränke oder Fässer die Ästhetik. Darin wuchern mit Vorliebe alte Sorten, deren Setzlinge mittlerweile viele Stadtgärtnereien bewusst züchten, um so einen Beitrag an das nachhaltige Gärtern in der Stadt zu leisten.

Hochbeete sind jedoch alles andere als eine neue Erfindung: Die Engländer schreiben sie oft Lawrence D. Hills ( 1911 – 1990), dem Mitbegründer der Biogarten-Bewegung, zu. Die Idee geht aber noch viel weiter zurück und fand bereits in historischen Klostergärten oder in den engen Stadtgärten des Mittelalters Anwendung.

Sicher ist: Hochbeete haben viele Vorteile: Dank bequemer Arbeitshöhe sind sie rückenschonend, und die gefrässigen Schnecken haben einen langen «Anfahrtsweg». Bei Sonnenschein erwärmen sich Hochbeete sehr schnell und verhindern dank optimalem Wasserabfluss, dass die Wurzeln von Gemüse, Kräutern und Blumen im allzu feuchten Boden verfaulen.

Kistenbeete sind daher auch prädestiniert für Orte, an denen vernässte Böden oder kühle klimatische Verhältnisse das Gärtnern erschweren. Und den modernen «Urban Gardeners» erlauben sie, auch an Orten Pflanzen zu ziehen, die dafür eigentlich gar nicht geeignet sind: etwa auf geteerten Plätzen oder kontaminierten Böden.

Brachen werden zum bunten Lebensraum

Und noch etwas ist anders als früher: Die Stadtgärtnerinnen und Stadtgärtner haben mit der Eroberung von Baubrachen ein völlig neues Terrain entdeckt. Dieses Phänomen lässt sich weltweit beobachten. In der amerikanischen Metropole Detroit wurden die urbanen Gärten beispielsweise aus der schieren Not geboren. Nach dem Untergang der Autoindustrie zog die Hälfte der Bevölkerung weg. Die Häuser zerfielen, Mittel zum Erhalt der Infrastruktur gab es kaum.

Der Niedergang eröffnete jedoch auch Freiräume: Künstler, Musikerinnen, Studierende oder Start-ups kauften Häuser und Grundstücke für wenige hundert Dollar, mieteten preiswerte Büros oder besetzten die Gelände einfach. Zahlreiche Nachbarschaften, kirchliche Gemeinden, Sozialhilfeempfänger oder Suppenküchen legten auf verlassenen Hausgrundstücken, Industriebrachen oder in Hinterhöfen Gärten an. Laut Schätzungen sind so mittlerweile bis zu zweitausend neue Grünflächen entstanden und mit ihnen noch viel mehr: Die Gärten beleben ausgestorbene Quartiere, geben den Menschen Beschäftigung, schaffen soziale Netzwerke und versorgen die Bewohner in einer Stadt ohne Gemüseläden und Supermärkte mit frischen Lebensmitteln. In vielen anderen amerikanischen Städten zeigt sich eine ähnliche Entwicklung.

Rasen betreten erwünscht!

In der Schweiz stellt sich die Situation etwas anders dar: Hier macht sich eher eine Mischung aus neuer Freiheit im öffentlichen Raum und Besorgnis um den fortschreitenden Verlust an Grünflächen bemerkbar. Die Brachen werden jeweils zu vielseitigen soziokulturellen Biotopen, wo es Platz hat für die unterschiedlichsten Nutzungen: Gemeinschaftsgärten, Bauspielplätze, Skater- und Kletteranlagen, selbstgebaute Riesenrutschen und Pizzaöfen, kollektive Veloflicketen, Klimaschutzprojekte durch die Herstellung von Pflanzenkohle, kulturelle Anlässe und vieles mehr …

Kommunen und Immobilienfirmen haben längst erkannt, dass die kreative Kraft der Bevölkerung für die Zwischennutzung von Geländen viele Vorteile mit sich bringt. Wird eine Brache bespielt, stärkt dies den Zusammenhalt der Quartierbewohner, und die leerstehenden Areale drohen weniger zu vergammeln. Wo sich Interessierte früher extrem ins Zeug legen mussten, um auf einer Brache etwas aufbauen zu dürfen, werden ihnen die Parzellen heute sogar gezielt angeboten. Zahlreichen positiven Beispielen sei Dank!

Gärtnern als Auftakt zum Zusammenleben

Eine Vorreiterin war in dieser Hinsicht die Zürcher Genossenschaft Kalkbreite. 2007 erhielt sie von der Stadt Zürich den Zuschlag für das Baurecht auf dem gleichnamigen Tramdepotareal. Ihr Ziel ging jedoch weit über das Erstellen von Wohnungen und Arbeitsplätzen hinaus. Die Initiantinnen und Initianten wollten das Areal von Anfang an sozial in den städtischen Kontext einbinden und zu einem lebendigen Quartierzentrum heranwachsen lassen.

Ein erstes deutliches Zeichen dafür war der temporäre Garten, der im Frühjahr 2009 auf dem Parkplatz neben den Gleisen entstand. Dieser wurde rund 18 Monate lang von Quartier- und künftigen «Kalkbreite»-Bewohnerinnen und -Bewohnern genutzt. In einer der urbansten Ecken der Stadt wuchsen in selbstgezimmerten Kisten mit einem Mal Mangold, Sonnenblumen oder zahlreiche Spezialitäten von Pro Specie Rara. Es gab Lesungen, Alphorn-Kurse, private Partys und Openair-Kinovorstellungen.

2014 schliesslich waren die Wohnungen einzugsbereit und die Mieterinnen und Mieter konnten einziehen. Das Fazit: Es handelt sich bei der «Chalchi» um eine überdurchschnittlich gelungene Siedlung, die international immer wieder für positive Schlagzeilen sorgt, weil sie nicht nur Wohn- und Arbeitsräume bietet, sondern auch das Quartierleben enorm bereichert.

Interkulturelle Gärten für Flüchtlinge

Eine ähnliche Zielsetzung wie die temporäre Pflanzaktion der Genossenschaft Kalkbreite verfolgt das Hilfswerk der Evangelischen Kirche Schweiz HEKS mit seinem Projekt «Neue Gärten». HEKS mietet Familiengärten oder erhält Areale von Kirchgemeinden und Asylzentren und stellt sie benachteiligten Migrantinnen und Migranten zur Verfügung. Diese erhalten so die Möglichkeit, Obst, Kräuter und Blumen für den Eigenbedarf anzubauen. Die Gärten werden zum Arbeitsort und Treffpunkt und erlauben den Beteiligten, soziale Kontakte zu knüpfen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern oder – ebenfalls wichtig! – einfach mal die Seele baumeln zu lassen und zu spielen. Derzeit betreibt HEKS an über 30 Standorten in der Schweiz solche Gärten.

Und zuletzt noch dies: Pflanzenlabyrinthe für Frauen

Zu den wichtigsten Wegbereiterinnen für das moderne «Urban Gardening» zählt mit Sicherheit die Frauenbewegung. In den 90er-Jahren entstanden in zahlreichen Städten weltweit Labyrinthplätze, um mithilfe dieses uralten Symbols neue Formen der Begegnung und Reflexion zu schaffen. Obwohl das Internet damals noch in den Kinderschuhen steckte, waren die Initiantinnen der verschiedenen Labyrinthplätze gut miteinander vernetzt.

Eines der bekanntesten Pflanzenlabyrinthe der Schweiz stammt auch aus dieser Zeit und befindet sich auf dem Kasernenareal in Zürich. Die Initiantinnen folgten dem Motto: So wie jede Stadt, jedes Dorf einen Fussballplatz und einen Schiessstand hat, sollte an jedem Ort ein Platz zu finden sein, an dem Frauen sich treffen, begegnen und gemeinsam die Welt gestalten können. Noch heute beteiligen sich zahlreiche Frauen durch Mithilfe im Garten oder die Organisation von Veranstaltungen am Projekt.

Das mittlerweile fast 30 Jahre alte Labyrinth ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie es einer kleinen Gruppe gelingen kann, ein Stück des öffentlichen Raums während Jahren zu bespielen und damit ein Quartier lebenswerter zu machen.

Die Autorin

Mirella Wepf
Mirella Wepf
Journalistin

Aus «casanostra» 150

Werbung